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An der Beobachtung teilgenommen
Versuch über Leben in einer DDR

Mustermann kommt aus geordneten häuslichen Verhältnissen. Vater und Mutter arbeiten in einem volkseigenen Betrieb. Der Mustermann ist laut polizeilichen Unterlagen Besitzer eines PKW, Typ Wartburg 353, polizeiliches Kennzeichen: IX 36−33, Farbe: delphingrau.
Von den Sicherheitsorganen der DDR wird eingeschätzt, dass Mustermann eine loyale Haltung zum Heimatstaat einnimmt.
Die Frau des Mustermanns kommt ebenfalls aus geordneten Verhältnissen. Vater arbeitet im volkseigenen Betrieb. Die Mutter ist Lehrerin.
Familie Mustermann hat ein gemeinsames Kind.
Von den Sicherheitsorganen der DDR wird eingeschätzt, dass die Frau des Mustermanns eine loyale Haltung zum Heimatstaat einnimmt.

An einem Abend im Frühling auf dem Wenzelsplatz sammelte die junge Frau des Mustermanns Flugblätter mit Aufrufen für Freiheit gegen die Besatzung der Ostblockländer auf. Dann fragte sie einer, ob sie mit über Österreich wollte, die Nacht wäre frei. Er würde gehen. Aber das stand für sie nicht zur Debatte. In der Nacht der größten Schusswechsel packte sie ihre Tasche. Die Flugblätter schmiss sie in den Ofen und machte sich im Auto auf den Heimweg in das Land des Spitzbartverräters.

Eine kleine Gesellschaft von Freunden des Mustermanns saß am Fenster seiner Küche. Sie redeten. Sie lachten. Sie tranken. Sie sprachen miteinander über ihre Haltungen zum Frieden und zum Sozialismus. Sie sagten einander, wie wichtig ihnen ihr Land sei, wie wichtig, Solidarität. Und Veränderung, sagte einer. Und Aufrichtigkeit. Ja, und Aufrichtigkeit!

Das Kind des Mustermanns schrieb Flugblätter. Er schrieb: Wollt ihr Krieg? Baut keine Bomben! Denkt an Karl Marx! Seine Mutter nahm sie ihm weg.

An einem späten Winterabend saßen zwei Männer in einem Lada vor dem Wohnhaus des Mustermanns. Sie lasen Zeitung ohne Licht. Eine Freundin der Familie des Mustermanns lief an dem Wagen vorbei, bevor sie das Haus betrat. Sie setzte sich zur Familie an den Küchentisch und sagte: „Stellt euch vor, vor eurem Haus sitzen zwei Männer im Auto und lesen Zeitung ohne Licht!“

Das Kind des Mustermanns beobachtete hinter den Sträuchern die Wache. Der junge Soldat bewachte gewissenhaft den Frieden des Sicherheitsministeriums. Grau, grau. Grau, grau. Über der Schulter das Gewehr, den Blick im Anschlag. Hinter ihm das Gebäude stand ruhig. Unter den vielen Stockwerken sagte man, seien ebenso viele in der Erde vergraben.

Der Mustermann hatte eine Insel inmitten großer Mischwälder. Ein Haus mit Fremdenzimmer, Veranda und Feuerglocke. Ein Garten mit Stachelbeeren, Erdbeeren, Johannisbeeren, Kartoffeln, Spargel, Tomaten, Apfelbäumen, und Nachbarshunden. „Es ist vorbei mit der Idylle!“ schrie der Mustermann. Und seine Frau lächelte mit einem Auge, mit dem anderen drückte sie eine Träne ab. Es gingen schon viele Menschen auf die Straße. Erst widersetzten sich wenige dem Versammlungsverbot, dann mehr und schließlich viele. Sehr viele wurden es sehr viel später. Das Kind der Familie Mustermann lief auch mit. Es lief zwischen den vielen Beinen und orientierte sich an Mutter und Vater. Die Menschen riefen, dass sie das Volk sind, und das Kind lächelte.

An einem Samstagabend heulte1 die Familie des Mustermanns vor dem Fernseher zu: „Liebe Landsleute, wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland möglich geworden ist.“ Töne vom Balkon des Palais Lobkowitz.

Jemand versprach sich in der Volkskammer. Eine einzige Kammer für ein ganzes Volk. Er versprach sich und niemand berichtigte ihn. So saßen die Mitglieder des Politbüros zwangsläufig verdutzt mit ihren Gesichtern zum Volke.

Der Mustermann fand Abstimmungen mit den Füssen plötzlich nicht mehr gut. Es ging ihm alles zu langsam. Er wollte sich nicht von der Geschichte lähmen lassen und diktiert werden war in seinen Augen vorbei. Er wusste plötzlich, was seine Freiheit ihm bedeutete und schob einen Einkaufswagen aus einer Halle, die hieß Spar, zu einem Auto, das hieß Passat, in einer Stadt, die hieß Hamburch. Hier fühlte er sich nicht nur frei, sondern suchte auch ein neues Glück. Dass er deshalb noch lange nicht in seinem erlernten Beruf arbeiten konnte, störte ihn nicht. Freiheit ist ja auch immer Freiheit der Andersdenkenden2, erinnerte er sich.

Die Frau des Mustermanns war verzweifelt. Sie hatte dem Mustermann nicht im Traum zugetraut, dass er sein Land verlassen würde. Sie und das Kind liefen noch auf der Straße mit, aber weiter hinten. Die Leute vorne riefen jetzt andere Sachen. Jetzt riefen sie, dass sie ein Volk sind. Die Frau und das Kind liefen in die Nebenstraßen, weg von den Menschentrauben und Menschenströmen und fanden eine Wohnung, die möbliert war, aber unbewohnt. Sie holten ihre Sachen und begannen ein paar Stadtteile weiter einfach einen neuen Lebensabschnitt. Das Klingelschild wurde überklebt und los ging`s.

Die Frau des Mustermanns stand mit ihrem Kind Schlange. Nicht vor dem HO, sondern vor dem Tor zur Freiheit. Sie hatten sich mit dem Mustermann wieder versöhnt und wollten ihn nun endlich einmal drüben besuchen. Manche von jenseits der Grenze (Land, von dem der Duft der Freiheit herüberwehte) brachten Kaugummi (Wrigley`s Spearmint, Hubba Bubba oder Juicy Fruit) zur Überbrückung der langen Wartezeiten. Manche brachten auch Suppe und Brötchen. Da fing die Unterscheidbarkeit schon an: Die Westbrötchen enthielten wesentlich mehr Luft, also praktisch kaum Teig. Die Frau und das Kind des Mustermanns waren erschrocken. Dass die Suppe nicht für alle reichte, kannten sie zwar, aber die Bundesrepublik hatten sie sich organisierter vorgestellt. Überfluss? Wo war denn nur der Überfluss?

In Hamburch fielen sich Mitglieder einer Familie im Hausflur eines Mietshauses in die Arme. Es waren die Mustermanns. Die Insel zwischen den großen Mischwäldern hatten sie verkauft. Jeder wusste inzwischen, dass der Joghurt hüben billiger war als drüben. Abzocke war das! Aber der Markt regelte nun mal den Preis. Die Mustermanns lernten schnell. Manchmal nach einem schweren Arbeitstag in ihrer neuen Heimat, der die alte inzwischen angegliedert war, sagten sie: Es war ja nicht alles schlecht!3

Land schafft System,
schafft Landschaftssystem.
Land schafft System ab,
schafft Landschaftssystem ab.
Neues Land auf altem Boden.
Das Land war hier.
Hier, wo wir jetzt treten und die Neuen Länder sagen.
Das Land war hier.
Hier, wo Sie jetzt stehen.


1 Heulen ist weinten plus zeitgemäßem Kommentar. Sie weinten. Sie waren ja ergriffen.
2 Der folgende Anschlusssatz an das Zitat von Rosa Luxemburg war dem Mustermann nicht mehr in Erinnerung: „Nicht wegen des Fanatismus der 'Gerechtigkeit', sondern weil all das Belebende, Heilsame, Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die 'Freiheit' zum Privilegium wird.“
3 Dieser Satz wird als Argument verhandelt und verschont niemanden mit seiner Arglosigkeit.


(2010)
erschienen in: Prolog 5einhalb – Heft für Zeichnung und Text, Berlin